Die neue Schnelligkeit der News: erst publizieren, dann verifizieren?

Soziale Netzwerke verändern den weltweiten Fluss von Nachrichten und dessen Geschwindigkeit. Das merken vor allem Journalisten, die in dieser neuen Arbeitsumgebung professionell agieren müssen. Neue Fragen kommen auf. Ist Tempo alles? Bei welcher Geschwindigkeit lassen sich Informationen noch verifizieren? Oder können Informationen sowieso erst nach dem Publizieren verifiziert und editiert werden?

Darum drehte sich das Abschluss-Panel der DJV-Konferenz „Besser online“ gestern in Bonn. Titel: Hyperventilation: zu schnell, zu brutal, zu ungenau – über den Schnelligkeitswahn im Online-Journalismus.

Die Diskutanten (von links nach rechts auf dem Podium):
Stefan Plöchinger (Chefredakteur sueddeutsche.de)
Melanie Ahlemeier (Nachrichtenchefin dapd.de)
Matthias Spielkamp (Betreiber iRights.info)
Alexander von Streit (Herausgeber vocer.org)
Moderator: Don Dahlmann (Autor, Journalist und Blogger).

Zum Auftakt der Diskussion sprach Internet-Vordenker Jeff Jarvis per Skype über die neue Schnelligkeit der News und die Folgen. Ich habe das Panel mit dem iPhone gefilmt (bis das Telefon nach knapp 50 Minuten voll war). Das Gespräch zwischen Don Dahlmann und Jeff Jarvis habe ich aufgeschrieben und dabei sinngemäß übersetzt. Der Text steht unter dem Video.

In der anschließenden Panel-Diskussion ging es um personell schlecht ausgestattete Online- und Agentur-Redaktionen, unsinnige Live-Ticker (Fukushima…) und Online-Redakteure, die mit ihrer schlampigen den ganzen Journalismus zerstören, wie ein Zwischenrufer meinte.

Don Dahlmann: Wir reden darüber, wie Social Media den Journalismus verändert. Was ist Deine Erfahrung: Wie reagieren amerikanische Medien darauf und wie verändert sich deren Arbeit?

Jeff Jarvis: Die Frage ist: „Brauchen Nachrichten Journalisten?“ Vielleicht nicht! Das ist ein Teil dessen, was uns Twitter lehrt. Die Lektion, die ich zuletzt gelernt habe, stammt von Andy Carvin von NPR. Seine Twitter-Berichterstattung über die Revolutionen im arabischen Raum zeigt: Nachrichten fangen an, die Architektur des Internets  nachzuahmen. Sie verlaufen von einem Ende direkt zum anderen, also vom Augenzeugen direkt zur [restlichen] Welt. Früher brauchte es uns [Journalisten] als Vermittler, ansonsten hat die Nachricht nicht stattgefunden. Aber jetzt in Libyen, Ägypten und Tunesien hatte niemand die Bürger angewiesen, die Revolution crowdzusourcen. Sie haben einfach der Welt mitgeteilt, was um sie herum passierte. Andy Carvin hat sich als Journalist zurückgenommen und [trotzdem] viel journalistischen Wert hinzugefügt. Er hat herausgefunden, wer wirklich vor Ort ist. Er hat Leute identifiziert, er hat Zusammenhänge hergestellt, er hat mit Gerüchten aufgeräumt, er hat Informationen verifiziert, er hat Erklärungen hinzugefügt, er hat Videos übersetzt, er hat also insgesamt unglaublichen journalistischen Mehrwert hinzugefügt. Aber die Nachrichten sind ohne ihn passiert. Ich glaube, wir müssen jetzt realisieren, dass die zentrale Architektur des Internets und der Welt von „Ende zu Ende“ ist. Menschen können Informationen miteinander teilen – kostenlos. Wir Journalisten müssen uns fragen, wie wir eine Wertsteigerung schaffen. Es gibt uns einen wirtschaftlichen Vorteil [im Gegensatz zu früher], weil wir nicht immer inmitten eines jeden Informationsaustausches sein müssen, sondern einen Vorteil aus der günstigen [neuen] Architektur der Nachrichtenübermittlung ziehen und einen großen Wert hinzufügen können. Und das erzähle ich auch meinen Studenten.

Don Dahlmann: Twitter beschleunigt die Nachrichten. Nun stehen Journalisten vor dem Problem, die Informationen in kurzer Zeit verifizieren zu müssen. Wie kann ein Journalist das machen?

Jeff Jarvis: Zunächst einmal besteht das Problem ja, seit es Nachrichtensender gibt, die rund um die Uhr live berichten. Seit dieser Zeit müssen die Zuschauer selbst zu Redakteuren werden und entscheiden, was wahr ist, weil es keine Zeit mehr für den journalistischen Prozess gibt, den Wahrheitsgehalt zu prüfen. Die andere Wahrheit ist: Andy Carvin, Gawker und andere verbreiten Nachrichten, bevor sie wissen, ob sie stimmen. Sie sagen [ihrem Publikum]: „Diese Information habe ich. Jene Fragen stellen sich allerdings noch. Was wisst Ihr darüber?“ Die beängstigende Sache für Journalisten ist: Wir sind in einer Situation, wo wir eine Information zuerst publizieren und erst anschließend editieren. Das hört sich schrecklich an, ist aber einfach nur die Situation, in der wir uns [mittlerweile] befinden. Die Schlüsselqualifikation für Journalisten ist es jetzt, zu sagen, was man alles nicht weiß [oder nicht bestätigen kann]. Also ganz transparent zu sein.

Don Dahlmann: Also muss man – etwa bei der Berichterstattung über den Terroranschlag in Oslo oder über die arabische Revolution – öfter mal die Formulierung „es könnte sein, dass“ benutzen. Aber damit lassen wir das Publikum doch ein Stück weit allein, oder?

Jeff Jarvis: Bei den 24-Stunden-Nachrichtensendern im Fernsehen war es doch immer schon der Fall, dass der Zuschauer entscheiden musste, welchen Informationen er vertraut und welchen nicht. Je mehr wird den journalistischen Prozess offen und transparent machen – und der journalistische Prozess bei Live-Nachrichten ist nun mal problematisch –, desto mehr wird man uns vertrauen und desto größeren Mehrwert können wir hinzufügen. Wir Journalisten werden ja weiterhin gebraucht, aber anders.

Don Dahlmann: Das heißt, das Publikum muss ein bisschen mithelfen […]?

Jeff Jarvis: Und das betrifft ja nicht nur den Journalismus. Übrigens kommt bald ein neues Buch von mir heraus, und ich habe noch keinen Verleger in Deutschland. Egal, ob du eine Autofirma bist oder eine Zeitung oder die Regierung, Du musst öffentlicher agieren.  Das wird erwartet. Sachen werden in der Öffentlichkeit passieren. […] Die Bürger werden von öffentlichen Institutionen verlangen, öffentlicher zu sein. […]

Don Dahlmann: Das bedeutet auch, dass sich die Journalistenausbildung
verändern muss.

Jeff Jarvis: Ja, und durch Instrumente wie Twitter müssen Journalisten
auch lernen, ihre Arbeit zu promoten. Sie müssen [diese Instrumente] nutzen um zu berichten, aber auch um zu fragen, was gerade passiert. Übrigens stellt sich auch die Frage, ob der fertige Artikel überhaupt die kleinste Einheit der Nachricht ist. Denn wenn man wieder zu Andy Carvin guckt, sieht man einen Strom an Nachrichten und einen Prozess, der niemals in einem Artikel mündet. Bisher schreiben wir Artikel, wenn sie einen Mehrwert bringen – also zum Verständnis beitragen oder die Zusammenfassung einer Entwicklung sind. Aber manchmal werden Nachrichten einfach nur ein Prozess sein, und wir müssen die Journalisten darin schulen.

Don Dahlmann: Haben die Verantwortlichen in den USA angefangen, ihre
Nachwuchskräfte darin zu schulen?

Jeff Jarvis: An der CUNY machen wir das, und die Leute sehen, wie bei der New York Times oder beim Guardian ein brillanter Job bei Live-Blogs gemacht wird. Damit habe ich die Murdoch-Story verfolgt. Das war wunderbar. Der fertige Artikel, der dann darüber erscheint, ist nur noch das Nebenprodukt. Der großartige amerikanische Verleger John Paton von der „Journal Register“-Zeitungsgruppe hat gerade die Zeitungsgruppe „MediaNews“ übernommen. Er predigt „Digital first, print last“, also „Digitales zuerst, Gedrucktes zuletzt.“ Die sagen der Welt also digital, was sie wissen, und der Zeitungsartikel, der anschließend erscheint, ist nur noch das Nebenprodukt.

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10 Antworten zu Die neue Schnelligkeit der News: erst publizieren, dann verifizieren?

  1. Pingback: WG016: Betriebsausflug zu Besser Online | Wikigeeks - Podcast über gesellschaftliche Netzthemen

  2. zeilenknecht schreibt:

    Auch wenn ich jetzt vielleicht Prügel auf mich ziehe – erst publizieren, dann verifizieren in Reinform halte ich für mehr oder weniger Quatsch. Unstrukturiert allen Input nebeneinander zu stellen z.B. bei einer laufenden Krimi-Geschichte alles von relativ harten Polizei-Infos bis zum Teenie, der für 50 Euro ein Gerücht aus dritter Hand in ein Mikrofon quatscht, ungeprüft 1:1 weiterzuverbreiten, überlädt, verwirrt und ist damit letztlich auch wieder Desinformation. Einen Großteil des ganzen Inputs muss man ja ja früher oder später wieder zurücknehmen (über das Phänomen „fünf Augenzeugen, acht Versionen“ kann man sich bei jedem Polizisten kundig machen). Es bestätigt sich nun mal nur ein kleiner Teil aller Halb- oder Viertelinfos vom Ort des Geschehens.

    Da der Druck (darf man auch Hype sagen?) bei aktuellen Ereignissen mit unklarer Informationslage immer größer wird, bleibt vielleicht nur noch die schlichte Input-Tabelle: Jeder Info-Brocken wird in ein, zwei Sätzen geschrieben. In der nächsten Spalte steht die Quelle mit ihrer Nähe zum Geschehen, dann die Eingangszeit, dann der Grad der Bestätigung und als letzte Spalte – bestätigt/noch unklar/widerlegt.

    Wem auch das zu sperrig ist, muss am Ende doch wieder auf das ständig als altmodisch verteufelte journalistische Bewerten zurückgreifen. Was hält man von der Glaubwürdigkeit einer Quelle und ihrer Info, dass es substantiell etwas zur Lageschilderung beiträgt oder doch nur zusätzliches Rauschen oder gleich Info-Müll ist, der unnötig Aufmerksamkeit frisst?
    ALLES ungeprüft zu bringen, gibt vielleicht einen auf Medientreff A vorzeigbaren „Nachrichtenstrom“ wird dann aber auf Medientreffen B wieder in der Luft zerrissen, wenn es um Verständlichkeit im Zeitalter nachlassender Aufmerksamkeit geht und den daraus resultierenden Zwang zur Kürze. Die Konsequenz, dass die breiteren Infoströme via Twitter & Co. schlicht und einfach zusätzliche Bearbeiter erforden, wollen halt viele nicht hören. Unaufwendiger ist es sicher, per copy&paste auf die Webseite zu heben, als Leute zu holen, die den Input erst noch bewerten.

    Natürlich birgt „Bewerten“ das Risiko, eine dann doch relevante Info nicht (schnell genug) gebracht zu haben. Die Variante, alles rauszuhauen, ist aber letztlich nur Feigheit vor dem Entscheiden. Entscheiden und selektieren ist unbequem, macht Arbeit und erfordert auch mehr Qualifikation als pures Verbreiten. Es ermöglicht aber substantiellere Info beim verfügbaren Platz bzw. Aufmerksamkeits-/Zeitbudget des Lesers. Relevanz statt Masse.

    Wahrscheinlich Minderheitenmeinung im Netz, aber ohne wird´s auch langweilig 😉

  3. @philippostrop Sehr schöner und guter Artikel! Ich habe mir mal erlaubt ihn in meine Linkliste über Besser Online 2011 zu erwähnen!
    @zeilenknecht Ich gebe dir da vollkommen Recht. Was von seriösen Journalisten oder Redaktionen kommt sollte durchaus vorher verifiziert werden. Und dieses hohe Gut solltet ihr auch weiterhin kämpfen! Für alles andere gibt es Leute wie mich!!! 😉 Wir leben nun mal im Informationszeitalter! Täglich werden wir mit soviel Infos überflutet das die Filtermechanismen für jeden Einzelnen immer bedeutsamer werden. Geschriebenen Unsinn gab es schon immer, auch im Zeitalter der Printmedien. Im Online-Zeitalter wird der Unsinn eben ein wenig mehr! 🙂

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  7. Heiko schreibt:

    Ich denke das Nachrichten schon Journalisten brauchen. Aber nicht so viele. Mittlerweile hat man eben nicht mehr nur EINE Zeitung die mir ALLES liefern muss was am Vortag passiert ist. Ich persönlich hätte kein Problem damit mir NAchrichten auf Webseite A und Hintergrundinformationen auf Webseite B zu besorgen. Auf diese Weise hätte der „Journalistenüberschuss“ endlich mal wieder Zeit für den geliebten Qualitätsjournalismus. Jaja, ich bin ideologisch.

  8. zeilenknecht schreibt:

    @Heiko: Hast Du schon mal in einer Redaktion gearbeitet oder Dir eine angesehen oder Dich mal mit der „Herstellung“ von Nachrichten befasst? Das ist jetzt nicht als Vorwurf gemeint, aber von „Journalistenüberschuss“ würdest Du dann nicht mehr reden. Versetze Dich mal in einen der normalen Journalisten in der Lokalausgabe einer Regionalzeitung, der zwei Seiten pro Tag füllen muss (und dafür nicht einfach mal die Texte von Nachrichtenagenturen nutzen kann).

    Und die Webseiten A und B werden nach wie vor meistens von der dahinterstehenden Zeitung A und B bezahlt. Die „schnellen“ Nachrichten auf den Webseiten sind in der überwältigenden Zahl nicht einfach so mal aus dem Intenet gefischt, sondern kommen von Nachrichtenagenturen, für die die Zeitungen A und B mehr oder weniger viel Geld bezahlen (um damit zunächst ihre Printausgaben zu füllen, mit denen sie ihr Geld vedienen, das dann die Online-Ausgabe subventioniert). Das Agenturmaterial dürfen die Online-Ausgaben dann umsonst mitnutzen.

    Das Geld kommt bei fast allen Zeitungen nicht einmal ansatzweise durch die Online-Ausgabe herein. Wenn es die dahinterstehende Zeitung mit ihren Werbe- und Aboeinnahmen nicht mehr gäbe (Beseitigung des „Journalistenüberschusses“), hätten die Online-Ausgaben kein Geld mehr für die Agenturen oder Journalisten, die dann die Online-Seiten A und B füllen.

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