#winnenden #twitterfail

Winnenden bei Twitter

Winnenden bei Twitter

Liebe Leute, jetzt bitte nicht durchdrehen. Heute wollten viele Medienmenschen liebend gerne den deutschen Twitter-Präzedenzfall erleben. Das hat in Mumbai und auf dem Hudson-River so super funktioniert, das muss beim nächsten Großereignis in Deutschland doch auch so sein.

Und was war? Außer @tontaube („Liebe Presse, ich weiß doch auch nichts von dem Verrückten“) wurde nicht viel O-Toniges aus der schwäbischen Provinz gezwitschert – obwohl CNN den Kontakt sogar mit einem Extra-Account herstellen wollte.

Stattdessen hat der heutige Tag gezeigt, wo die Twitter-Grenzen liegen können – und sollten! Als mittags der Name des Attentäters kursierte und wir alle auf die Google-Facebook-SchülerVZ-Suche nach Tim K. gegangen sind, mussten wir feststellen, dass mit der Online-Recherche nicht viel zu holen war.

Gleichzeitig jedoch kursierten in den Tweets Links mit völligen Scheißhaus-Parolen, die mich ziemlich wütend gemacht haben. Zum Kotzen fand ich, dass zwei Stunden lang ein Link auf ein Foto des angeblichen Amokläufers herumgeschickt worden ist (ich verzichte auf eine Verlinkung). Der junge Mann heißt ebenfalls Tim K. – doch er ist Azubi in Bremen. Der arme Junge! Er ist nicht der Amokläufer, und es war heute Mittag auch verdammt unwahrscheinlich, dass er der Amokläufer hätte sein können.

Noch heftiger fand ich jedoch den Link auf die Seite des Kinderheim-Jungen aus Oberhausen (ich verzichte ebenfalls auf eine Verlinkung). Warum hätte er der Amokläufer von Winnenden sein sollen? Nur weil er in seinem Blog schreibt, dass seit dem Tod seiner Mutter sein Leben nicht mehr so lebenswert ist? Es gab zu dem Zeitpunkt, als er als Amokläufer gehandelt wurde, keinerlei Hinweise darauf  – außer der zufälligen Namensgleichheit.

Mir ist klar, dass man Blödsinnstweets nicht verhindern kann, und das ist auch kein Problem, das nur Twitter hat. Im realen Leben werden Gerüchte in der U-Bahn oder auf dem Marktplatz ebenfalls wider besseres Wissen verbreitet – einfach nur, weil Gerüchtestreuen Spaß macht. Weil man dann wichtig ist.

Gerade deshalb müssen wir Medien uns allerdings davor hüten, Tweets gleichzusetzen mit redaktionellem Content. Wir dürfen es nicht so machen wie Stern.de. Dort  stand das Gezwitscher neben den Infos der Profis.  Scheißhausparolen neben Journalismus, Rotz neben Recherche.

Stern.de: Rotz neben Recherche

Stern.de: Rotz neben Recherche

Der heutige Twitter-Tag hat gezeigt: Es braucht noch Journalisten. Zur Erinnerung: Das sind diejenigen, die beruflich Gerüchte/Tweets/Scheißhausparolen einordnen, gegenchecken und nicht ungeprüft weiterverbreiten.

Als Mahnung an uns Medienmenschen könnte der Tweet von @sixtus dienen: „Liebe Presse: Mehr über die Vorgänge in Winnenden erfahren Sie in Winnenden und nicht auf Twitter“

Update 0.59 Uhr: Focus hat offenbar zunächst unter dem Account @amoklauf getwittert, später dann als @focuslive. Das wird gerade hier bei Stefan Niggemeier heftig diskutiert. Mehr Debatte auch bei Spreeblick.

Update 8:37 Uhr: Auch die Augsburger Allgemeine schreibt über die irren Verdächtigungen.

Über philippostrop

Journalist
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7 Antworten zu #winnenden #twitterfail

  1. Robert schreibt:

    Der Beitrag spricht mir aus den Herzen. Ich habe das auch verfolgt, ausgehend von ntv, die am Nachmittag ein vermeintliches Profil des Amokläufers von einem Twitter-Beitrag übernommen haben. Auf der Grafik waren Pistolen zu sehen, also könnte es sein Profil aus myspace sein, so die Schlussfolgerung.
    Vor einiger Zeit dann auch noch ein Fake, der über Twitter verbreitet wurde, wonach Tim K. seinen Amoklauf vorher angekündigt habe. Bleibt abzuwarten, welche Journalisten das als harten Fakt übernehmen.

  2. Michael schreibt:

    Und ich sach noch… 🙂

  3. Wurstbrot schreibt:

    >>Ausnahmsweise ernsthafter Beitrag meinerseits<<

    Das Thema spornt nicht nur zum inhaltlichen response, sondern auch zu einer kritischen Hinterfragung der Medienkompetenz des Konsumenten allgemein an…aber der Reihe nach.

    Um ehrlich zu sein, kann ich die dargestellte Aufregung über Twitter(nutzer /-nutzung) in ethisch-moralischer Hinsicht VOLLLSTENS nachvollziehen. Keine Frage! Gerüchte und Halbwahrheiten verbreiten schadet mitunter schließlich konkreten Personen und ist somit per se verwerflich.

    Aber sind wir doch mal ehrlich: wer, wie z.B. stern.de, Twitter allen Ernstes als verlässlichen newspool darstellt oder auch nur annimmt, Twitter wolle und könne (ungefiltert und -recherchiert) viel mehr als einen netten Zeitvertreib leisten, der disqualifiziert sich doch eh selber.
    Wo mehrere 100.000 Menschen informationstechnisch ungefiltert aufeinandertreffen, da sind naturgemäß auch immer Hammerwerfer unter ihnen. Das finde ich nicht sonderlich verwunderlich.
    Wer Unbedarften eine Waffe in die Hand gibt, der darf sich nicht wundern, wenn sich ein Schuss löst.

    Doch liegt der eigentliche Kern nicht woanders?

    Sind es nicht vielmehr die vielzitierten „mündigen Bürger“, denen es obliegt, sich durch geeignete Informationsquellen und mit einem Mindestmaß an Intelligenz und Interesse einen eigenen Eindruck zu verschaffen und nicht das erstbeste Stück Newsfleisch zu verschlingen, das ihnen vor die Füße geworfen wird? Wäre eine derartige Diskussion nicht erfreulich unnötig, wenn wesentlich mehr Menschen differenzierter mit Medien umgehen könnten?

    Denjenigen, die diese Mindestmaße nicht mitbringen, ist eh nicht zu helfen. Und das sind wohl auch nicht die Leser/Konsumenten, die Ihr als ernsthafte Journalisten wollt oder überhaupt erreichen könnt.
    Die andere Gruppe dagegen wird sich so verhalten, wie es ein Markt nunmal tut: bekomme ich irgendwo keine gescheite Ware, werde ich dort nicht mehr kaufen. Wo ich vernünftige, preiswerte Ware bekomme, dort werde ich bleiben und mein Vertrauen/meine Markentreue wird gefestigt.
    „Preiswert“ kommt schließlich daher, dass etwas seinen Preis wert ist. Und Qualität ist nunmal nicht zum Nulltarif zu haben…im Gegensatz zu Twitternachrichten.

    Also regt euch weiter auf und seid kritisch und skeptisch und faktentreu. Denn das erwarte ich als Leser so von guter journalistischer Arbeit!

    Weiter so!!!

  4. Pingback: Die Institutionalisierung von Amokläufen « homo sociologicus

  5. laura schreibt:

    die letzten Tage haben immer mehr gezeigt, dass die Medien Dinge verkünden, die einfach nicht der Wahrheit entsprechen. Zum Beispiel, dass der Täter einen Kampfanzug trug, dass die Realschule eine Lautsprecher-Anlage hat über die die Schüler gewarnt wuden oder anderes.. ich bin enttäuscht von vielen Journalisten, da sie schlecht recherchiert und teilweiße Grenzen überschritten haben. Es ist eine Unverschämtheit, dass sie vielen Schülern, wie mir auch, Geld geboten haben, damit man in die Kamera heult und ihnen etwas über den Täter sagt, was nichtmal wahr sein muss. Und wenn manche Leute dieses Angebot auch noch annehmen, bin ich nur sprachlos. Denn die wirklich Betroffenen schweigen und vermeiden es, gefilmt zu werden und machen sich nicht mit sowas wichtig. Deswegen finde ich es genauso enttäuschend, wenn Leute im Internet mit Gerüchten um sich werfen, nur um sich wichtig zu machen und dadurch auch noch Leute, die mit der Sache nichts zu tun haben, in den Schmutz ziehen!!

    Deswegen DANKE für diesen Beitrag!!!!! Dort steht genau das, was ich auch denke!!

    Und wenn manche Leute jetzt hoffentlich aufhören, sich durch diese schreckliche Tat wichtig machen zu wollen, kann unsere Stadt sich vielleicht endlich mal davon erholen..

  6. Pingback: Gladbeck reloaded? « ostroplog – Das Weblog von Philipp Ostrop

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